Der Lärm der Zeit (eBook)

256 Seiten
Kiepenheuer & Witsch eBook (Verlag)
978-3-462-31697-1 (ISBN)
Julian Barnes, 1946 in Leicester geboren, arbeitete nach dem Studium moderner Sprachen als Lexikograph, dann als Journalist. Von Barnes, der zahlreiche internationale Literaturpreise erhielt, liegt ein umfangreiches erzählerisches und essayistisches Werk vor, darunter »Flauberts Papagei«, »Eine Geschichte der Welt in 10 1/2 Kapiteln« und »Lebensstufen«. Für seinen Roman »Vom Ende einer Geschichte« wurde er mit dem Man Booker Prize ausgezeichnet. Julian Barnes lebt in London.
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 30/2017) — Platz 18
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- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 14/2017) — Platz 5
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- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 12/2017) — Platz 2
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- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 10/2017) — Platz 6
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 09/2017) — Platz 14
Julian Barnes, 1946 in Leicester geboren, arbeitete nach dem Studium moderner Sprachen als Lexikograph, dann als Journalist. Von Barnes, der zahlreiche internationale Literaturpreise erhielt, liegt ein umfangreiches erzählerisches und essayistisches Werk vor, darunter »Flauberts Papagei«, »Eine Geschichte der Welt in 10 1/2 Kapiteln« und »Lebensstufen«. Für seinen Roman »Vom Ende einer Geschichte« wurde er mit dem Man Booker Prize ausgezeichnet. Julian Barnes lebt in London. Gertraude Krueger, geboren 1949, lebt als freie Übersetzerin in Berlin. Zu ihren Übersetzungen gehören u.a. Sketche der Monty-Python-Truppe und Werke von Julian Barnes, Alice Walker, Valerie Wilson Wesley, Jhumpa Lahiri und E.L. Doctorow.
Zwei
Im Flugzeug
Er wusste nur eins: Dies war die schlimmste Zeit.
Eine Angst treibt die andere aus, wie ein Nagel den anderen austreibt. Darum konzentrierte er sich, als das aufsteigende Flugzeug anscheinend auf brettharte Luftschichten traf, auf die naheliegende, unmittelbare Angst: vor der Auslöschung, dem Zerfall, der umgehenden Vergessenheit. Normalerweise treibt die Angst auch alle anderen Gefühle aus, die Scham jedoch nicht. Angst und Scham rührten sich fröhlich in seinem Magen zusammen.
Er konnte die Tragfläche und einen wirbelnden Propeller des Flugzeugs der American Overseas Airlines sehen; das und die Wolken, auf die sie zusteuerten. Andere Delegationsmitglieder mit besseren Plätzen und größerer Neugier drückten sich an die kleinen Fenster, um einen letzten Blick auf die Skyline von New York zu erhaschen. Die sechs waren hörbar in Feierlaune und warteten ungeduldig auf die Stewardess mit den ersten Getränken. Sie würden auf den großen Erfolg des Kongresses anstoßen und sich gegenseitig versichern, dass das kriegstreiberische State Department gerade deshalb ihre Visa widerrufen und sie vorzeitig nach Hause geschickt hatte, weil sie die Sache des Friedens so sehr befördert hatten. Auch er wartete ungeduldig auf die Stewardess und die Getränke, wenn auch aus anderen Gründen. Er wollte alles vergessen, was geschehen war. Er zog die gemusterten Vorhänge vor das Fenster, wie um die Erinnerung auszulöschen. Das würde ihm kaum gelingen, und wenn er noch so viel trank.
»Es gibt nur guten Wodka und sehr guten Wodka – schlechten Wodka gibt es nicht.« Diese Weisheit galt von Moskau bis Leningrad, von Archangelsk bis Kuibyschew. Aber es gab auch amerikanischen Wodka, der, wie er jetzt wusste, gewohnheitsmäßig mit Fruchtaromen, mit Zitrone und Eis und Tonicwasser verbessert und der Geschmack in Cocktails verdeckt wurde. Also gab es vielleicht doch so etwas wie schlechten Wodka.
Während des Krieges hatte er manchmal, wenn er sich vor einer langen Reise fürchtete, eine Hypnotherapie gemacht. Er wünschte, er hätte sich vor dem Hinflug so behandeln lassen, dann an jedem einzelnen Tag der Woche in New York und vor der Rückreise noch einmal. Am besten hätten sie ihn einfach mit einer Wochenration Wurst und Wodka in eine Holzkiste gesteckt, die Kiste am Flughafen LaGuardia abgestellt und zum Rückflug wieder eingeladen. Na, Dmitri Dmitrijewitsch, wie war die Reise? Danke, sehr gut, ich habe alles gesehen, was ich sehen wollte, und das in äußerst angenehmer Gesellschaft.
Auf dem Hinflug hatte sein offizieller Betreuer, Bewacher, Übersetzer und seit vierundzwanzig Stunden neuer bester Freund auf dem Platz neben ihm gesessen. Und selbstverständlich Belomor geraucht. Als man ihnen Speisekarten auf Englisch und Französisch gab, hatte er seinen Begleiter um eine Übersetzung gebeten. Rechts waren Cocktails, alkoholische Getränke und Zigaretten aufgeführt. Links, so vermutete er, Speisen. Nein, kam die Antwort, das waren andere Sachen, die man bestellen konnte. Ein bürokratischer Zeigefinger fuhr die Liste entlang. Dominosteine, Damespiele, Würfel, Backgammon. Zeitungen, Briefpapier, Zeitschriften, Postkarten. Elektrischer Rasierapparat, Eisbeutel, Nähzeug, Reisetabletten, Kaugummi, Zahnbürsten, Kleenex.
»Und das da?«, hatte er gefragt und auf den einzigen nicht übersetzten Posten gezeigt.
Eine Stewardess wurde gerufen, und es folgte eine lange Erklärung. Schließlich sagte man ihm:
»Benzedrin-Inhalator.«
»Benzedrin-Inhalator?«
»Für drogensüchtige Kapitalisten, die sich bei Start und Landung vor Angst in die Hose machen«, erläuterte sein neuer bester Freund mit einer gewissen ideologischen Selbstgefälligkeit.
Er selbst litt an nicht-kapitalistischer Angst bei Start und Landung. Wenn er nicht gewusst hätte, dass es unverzüglich in seine offizielle Akte gekommen wäre, hätte er diese dekadente westliche Erfindung womöglich ausprobiert.
Angst: Was wussten die, die Angst auslösten? Sie wussten, dass sie funktioniert, sogar wie sie funktioniert, aber nicht, wie sie sich anfühlt. »Der Wolf kann nicht von der Angst der Schafe reden«, wie man so sagt. Während er auf Anordnungen aus dem Großen Haus in St. Leninsburg wartete, hatte Oistrach in Moskau auf seine Verhaftung gewartet. Der Violinist hatte ihm geschildert, wie sie Nacht für Nacht Menschen aus seinem Haus abholten. Nie eine Massenverhaftung; immer nur ein Opfer, und in der nächsten Nacht dann ein anderes – ein System, das die Angst für die Verbliebenen, die einstweilig Überlebenden in die Höhe trieb. Schließlich waren sämtliche Bewohner abgeholt worden, nur die in seiner und der gegenüberliegenden Wohnung nicht. In der nächsten Nacht kam der Polizeiwagen wieder, sie hörten, wie unten die Tür zuschlug, Schritte den Korridor entlangkamen … und zu der anderen Wohnung gingen. Exakt von diesem Moment an, sagte Oistrach, hatte er ständig Angst und würde sie, wie er wusste, sein Leben lang nicht verlieren.
Jetzt, auf dem Rückflug, ließ sein Aufpasser ihn in Ruhe. Sie würden erst in dreißig Stunden in Moskau ankommen und vorher in Neufundland, Reykjavik, Frankfurt und Berlin zwischenlanden. Wenigstens würde er es behaglich haben: Die Sitze waren bequem, der Geräuschpegel erträglich, die Stewardessen gepflegt. Sie brachten Essen, das auf Porzellangeschirr und Tischleinen mit schwerem Besteck serviert wurde. Riesige Garnelen, fett und ölig wie Politiker, in Garnelen-Cocktailsoße schwimmend. Ein Steak, fast so hoch wie breit, mit Pilzen und Kartoffeln und grünen Bohnen. Obstsalat. Er aß, aber vor allem trank er. Er vertrug jetzt mehr als in jüngeren Jahren. Einen Scotch mit Soda nach dem anderen, aber sie machten ihn nicht betrunken. Niemand gebot ihm Einhalt, weder die Fluggesellschaft noch seine Gefährten, die vernehmbar angeheitert waren und wahrscheinlich ebenso viel tranken. Dann, nachdem der Kaffee serviert worden war, schien es in der Kabine wärmer zu werden, und alle schliefen ein, er selbst eingeschlossen.
Was hatte er sich von Amerika erhofft? Er hatte gehofft, Strawinsky zu treffen. Selbst wenn er wusste, dass das ein Traum, ja eine Fantasievorstellung war. Er hatte Strawinskys Musik immer verehrt. Er hatte kaum eine Vorstellung von Petruschka im Mariinski Theater versäumt. Er hatte bei der russischen Erstaufführung von Les Noces das zweite Klavier gespielt, die Serenade in A vor Publikum vorgetragen, die Psalmensymphonie für Klavier zu vier Händen eingerichtet. Wenn es einen Komponisten des zwanzigsten Jahrhunderts gab, dem man Größe zusprechen konnte, dann Strawinsky. Die Psalmensymphonie war eines der brillantesten Werke der Musikgeschichte. All das stand für ihn ohne Wenn und Aber fest.
Aber Strawinsky würde nicht da sein. Er hatte ein brüskes und weit und breit publik gemachtes Telegramm geschickt: »Kann leider ankommende sowjetische Künstler nicht mit empfangen. All meine ethischen und ästhetischen Überzeugungen stehen dem entgegen.«
Und was hatte er sich von Amerika erwartet? Sicher keine Kapitalistenkarikaturen, die mit Zylinderhüten und Stars-und-Stripes-Westen über die Fifth Avenue marschierten und das hungernde Proletariat mit Füßen traten. Ebenso wenig erwartete er das viel beschworene Land der Freiheit – er glaubte nicht, dass es so etwas überhaupt gab. Vielleicht hatte er sich eine Kombination von technischem Vorsprung, gesellschaftlicher Konformität und der nüchternen Denkungsart eines zu Wohlstand gelangten Pioniervolks vorgestellt. Ilf und Petrow hatten nach einer Autoreise quer durchs Land geschrieben, es mache sie traurig, an Amerika zu denken, während es bei den Amerikanern selbst das Gegenteil bewirke. Sie berichteten auch, dass die Amerikaner im Gegensatz zu ihrer eigenen Propaganda von Natur aus völlig passiv seien, da ihnen alles fix und fertig vorgesetzt würde, von Gedanken bis zum Essen. Selbst die reglos auf der Weide stehenden Kühe sähen aus wie Reklamebilder für Kondensmilch.
Als Erstes hatte ihn überrascht, wie sich die amerikanischen Journalisten benahmen. Eine Vorhut amerikanischer Reporter hatte ihnen auf der Hinreise am Frankfurter Flughafen aufgelauert. Sie brüllten ihre Fragen heraus und bedrängten ihn mit ihren Kameras. Sie waren von einer fröhlichen Unverschämtheit, anmaßend im Vollgefühl überlegener Werte. Wenn sie deinen Namen nicht aussprechen konnten, dann lag es an deinem Namen, nicht an ihnen. Darum kürzten sie ihn ab.
»Hey, Schosti, schau hierher! Schwenk deinen Hut!«
Das war später gewesen, am Flughafen LaGuardia. Er hatte auch brav den Hut geschwenkt, genau wie seine Mitdelegierten.
»Hey, Schosti, lächeln!«
»Hey, Schosti, wie gefällt dir Amerika?«
»Hey, Schosti, sind dir Blondinen oder Brünette lieber?«
Ja, sogar das hatten sie ihn gefragt. Wenn man zu Hause von den Männern bespitzelt wurde, die Belomor rauchten, dann wurde man hier in Amerika von der Presse bespitzelt. Nachdem ihr Flugzeug gelandet war, hatte ein Journalist sich eine Stewardess geschnappt und sie über das Verhalten der sowjetischen Delegation während des Fluges ausgefragt. Sie berichtete, die Delegierten hätten mit den anderen Fluggästen geplaudert und gern trockene Martinis und Scotch mit Soda getrunken. Und so was wurde prompt in der New York Times abgedruckt, als wäre es von...
Erscheint lt. Verlag | 16.2.2017 |
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Übersetzer | Gertraude Krueger |
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Das Literarische Quartett • Dmitri Schostakowitsch • Flauberts Papagei • Klassik- Musik • Künstlerroman • Lady Macbeth von Mzensk • Moskau • Roman über Musiker • Russischer Pianist • Russland-Komponist • Schostakowitsch • SPIEGEL-Bestseller • Stalin • Titelmusik Eyes Wide Shut • Vom Ende einer Geschichte • Zensur |
ISBN-10 | 3-462-31697-4 / 3462316974 |
ISBN-13 | 978-3-462-31697-1 / 9783462316971 |
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